Kulinarischer Ausflug in´s nahe Bündnerland
Am vergangenen Wochenende hatte ich die Gelegenheit die Geschmackswelt des Bündnerland (Kanton Graubünden, CH) naturnah zu erleben, live in privater Gesellschaft. Umgeben von einheimischen Koch-Profis in der Umgebung von Lenzerheide. Angereist bin ich zusammen mit meiner Tante und zugleich Meisterköchin, die dort seit Jahrzehnten freundschaftliche Kontakte pflegt. Ihre persönliche Verbundenheit, die während ihrer jugendlich-dynamischen 20plus-Ära der 70er Jahre auf gastronomischer Ebene entstanden ist, kam mir auf kulinarische Art zu Gute.
Als Freund von sowohl Wildfleisch als auch der Alpenländischen Küche, zeige ich Euch nun meinen Einblick in die „wilde“ Kulinarik und Botanik des Bündnerlands! Wir wandern und schlemmen in einer Bergwelt, in der sich der größte Naturpark der Schweiz, Parc natiral Ela, befindet (ca. 1200 bis 3300 HM). Im Kanton GR wird zudem die selten gehörte Sprache Rätoromanisch gesprochen. Ihre Tonalität klingt so exotisch „lateinisch“, wie dort ein ganz spezielles Wildfleisch und andere naturnahe Zutaten schmecken.

Geschmortes Murmeltier, so süüß …
In Deutschland steht dieses putzig lustig anmutende Nagetier unter Naturschutz, bei unseren beiden alpinen Nachbarn wird es bejagt, vom 16. August bis 15.Oktober. Nun ja, … unschuldig süüße Tierchen wie z.B. Lämmchen (aus Übersee) werden von vielen Carnivoren gerne traditionsbewusst zum Osterfest verspeist, auch bei uns in Deutschland. Das Fleisch dieser alpinen Nagetiere aus den Höhenlagen um 2000 HM wurde früher von den Alpenbewohnern häufig küchentechnisch verarbeitet, auch aus der Not heraus. Heute ist es für die wahren Freunde des echt urigen Wildgeschmacks eine Delikatesse.
Muntanella, wie das Alpen-Murmeltier auf rätoromanisch genannt wird, ist eine kulinarische Rarität. Bestenfalls genießt man es bei Köchen mit grünem Abitur (Jagdschein), auf deren „Warteliste“ man sich einschreiben durfte.
Diese seltene Verzehrsgelegenheit hat mehrere Gründe. Es finden sich zwar Rezepte sogar im Internet, allerdings „ziemlich betriebswirtschaftlich ambitioniert ist der kaum kalkulierbare Aufwand bei der Jagd wie auch die Zubereitung“, so Chefkoch Alexander und seine Eltern bei denen wir zu Tisch sein durften. Zudem ist der ausgeprägte Geschmack von Munggen (M.-tier auf schwyzerdütsch) so polarisierend wie anspruchsvolle Jazzmusik, … der Murmel-Groove beschwingt nicht jeden Kulinariker.

… und selten lecker!
Bei uns hat dieses Abendmahl am Gaumen so schmackhaft gegrooved wie eben der natürliche Rythmus der Alpen diese lässige Erdhörnchen-Spezies umherspringen und bei Gefahr auch pfeifen lässt, … ja is´so. Spätestens im Oktober wird dieses Wildfleisch auf Vorrat zubereitet und danach portioniert eingefroren. Bis zum Ende der Wintersaison wird diese geschmorte Wild-Spezialität dann auf Bestellung regeneriert und serviert. So geschehen für uns am 1.April, ohne Scherz, dafür aber mit ausdrucksstarkem sowie zartem Geschmackserlebnis in der Kategorie „Rares Floisch“.
Die aromatische Wildsauce wie auch die abgestimmte Gemüse-Begleitung und Spätzli waren eine Hommage an die fast schon vergessene Kochkunst aus den legendären Zeiten der Grand Hotels. Persönlich zubereitet vom jungen Inhaber und Chefkoch Alexander Nadig in seiner Restaurantküche St. Cassian in Lantsch/Lenz, die er mit seiner Frau von seinen Eltern übernommen hat. „Die Sauce enthält würzende Zutaten meines klassischen Geheimrezepts und wird aus dem Schmorfond und einer Grand Jus gezaubert“, erklärt uns der Chefkoch. Mein Respekt verbietet mir nach aromatischen Details zu fragen. Auf die achtsame Vorbereitung bin ich aber neugierig.

Aufwändige Vorbereitung, langes Schmoren
Es grooved nämlich überhaupt nicht am Gaumen, wenn Murmeltierfleisch nicht fachmännisch vorbehandelt und zubereitet wird. Die meisten Köche, wie auch ich, wissen nämlich nicht wie´s geht. Solch seltenes Wildfleisch sollte idealerweise unmittelbar nach der Jagd küchentechnisch verarbeitet werden!
„Für die Zubereitung ist es essentiell, dieses Wildfleisch seehr gut vom Fettpolster zu befreien und die Schweißdrüsen an der Schulter sorgfältig herauszuschneiden“, betont Chefkoch Alexander
Nun ja, ich kann mir bildhaft vorstellen, dass der Koch während der Verarbeitung des murmeligen Wildfleischs unangenehmen Gerüchen ausgesetzt ist. Denn nach der Vorbehandlung wird das dunkle Fleisch in Stücken zwei bis drei mal in heißem Wasser ca. 5 Minuten gebrüht, damit sich noch mehr Fett und dessen Geruch „herauswäscht“. Der gleiche Effekt wird durch mehrtägiges Einlegen in einer Beize aus Rotwein und Buttermilch erzielt. Nun wird das vorgekochte Wildfleisch in neutralem Öl zwei mal angebraten. Das Bratfett wird nach jedem Bratvorgang entsorgt und die Pfanne logischerweise gründlich gesäubert. Bis hierhin riecht es immer noch nicht lecker in der Küche, trotz Röstaromen.
Abschließend wird bei niedriger Temperatur im Wildfond mit Wurzelgemüse (Mire Poix) geschmort bis sich das Murmelfleisch weich vom Knochen „lutschen“ lässt , z.B. beim Niedertemperatur-Garen über ziemlich viele Stunden lang. Jetzt endlich duftet das Murmeltier angenehm aromatisch, so wie Kenner es schätzen.

Volksmedizinische Anmerkung aus Wikipedia: „Das Murmel-Fett gilt als wirksam gegen Husten, Magenleiden, Übelkeit, zur Blutreinigung oder allgemein zur Stärkung; äußerlich gegen Gliederschmerzen, Frostbeulen oder Sehnenzerrung“. Nun denn, verstehen muss ich das nicht.

Schnecken in Cafe de Paris-Butter gab es vorweg. Ein komplexes Aromengefüge in dem auch Sardellen und schwarze Oliven ihren ungewöhnlichen aber „versteckten“ Platz in dieser klassischen Butterzubereitung finden. Ein Gedicht, das ich gerne auswendig lernen würde.

Da das Abendmahl sich für uns mit Vorspeise und Hauptgang sehr ausführlich gestaltete, wurde der Genuss des Desserts auf die sonnige Terasse des darauffolgenden Tags verlegt: Hausgemachter Apfelstrudel, der selbst den österreichischen Nachbarn ernsthafte Konkurrenz bedeuten dürfte.
Käsefondue auf der Alp
Dort wurde uns mittags eine weitere urschweizerische Spezialität frisch zubereitet. Chefkoch Alexanders Mutter Charlotte ließ ihre frisch geraspelte Alpkäsemischung für uns dahinschmelzen. Und zwar in Schweizer Weißwein, leicht aromatisiert mit Knoblauch. Damit das Sättigungsgefühl nicht zu plötzlich und heftig eintritt, wie dies bei Käsfondue nun mal naturgegeben passieren kann, wurde dazu neben gewürfeltem Sauerteigbrot auch blanchiertes Gemüse (Fenchel, Blumenkohl, Karotten) zum Dippen gereicht. Harmoniert sehr gut mit Alpkäse und der Magendruck kommt so erst gar nicht auf. Wie unschwer auf dem Foto zu erkennen, ist der Geschmack dieses Fondues vor solcher Bergkulisse situationsbedingt einzigartig gut. Daher habe ich auch gar nicht nach dem Rezept gefragt. Daheim am Bodensee würde die Mischung ohnehin anders schmecken, denn das Alpenpanorama ist dort zwar oft sichtbar, aber weiter entfernt. Geschmackserlebnisse stehen nunmal in Korrelation zur (einmaligen) Situation an einem Ort.




Weitere „wilde“ Zutaten aus der Geschmackswelt des Bündnerlands



Tannenspitzen
Seltene Zutat, da in öffentlichen Nadelwäldern verboten zu ernten. Die hier abgebildeten getrockneten Tannenspitzen wurden auf Privatgrund behutsam in kleinen Mengen geschnitten. Hervorragend als dezentes Würzmittel in Desserts (z.B. Sirup) wie auch in herzhaften Saucen geeignet. Meine Essperimente in Sachen „Essbarer Nadelwald“ folgen bald.

Getrocknete Pfifferlinge
Inzwischen ist bekannt, dass pulverisierte getrocknete Pilze als natürlicher Geschmacksverstärker dienen können, so z.B. auch in veganen Gerichten. Dass dieses Aroma auch Käsefondues einen einzigartigen Touch verleihen kann, wusste ich vor meinem kulinarischen Ausflug nach Graubünden nicht.


Feiner Löwenzahn, frisch vom Maulwurfshügel
Mittags auf der Almwiesen gestochen und abends daheim als Salat zubereitet. Maulwurfshügel sind erkennbar frei von Kuhfladen oder anderen Niederlassungen, daher kann man auf Bergwiesen die feinen Blätter bedenkenlos ernten bzw. mit einem Messer tief ausstechen. Ein fruchtiges Salatrezept dazu folgt in einem meiner kommenden Beiträge in der Kategorie „Alpenländische Küche“.
Urige Alpine Eigenkreationen
Mit einigen der oben genannten Zutaten aus Graubünden habe ich diese Rezepte entwickelt, weitere folgen:
- Tannensptzen-Parfait mit gebackenen Apfelringen in Calanda-Bierteig, mehr erfahren
- Almwiesen Latte Macchiato, mehr erfahren
- BBQ-Bratwurst, im Almwiesenheu gesmoked mehr erfahren
- Salat mit Löwenzahn und Apfel
Spezialitäten aus Graubünden
LIKÖR-SPEZIALITÄT, dekoriert mit dem Wappentier des Kanton Graubünden. Aromatisiert mit einem Extrakt aus sonnengetrockneten Kirschen und Gewürzen. Pur oder im Kaffee oder zum Aromatisieren von Desserts, so der Hersteller. Schmeckt aber auch zum Abschluss eines Käsefondues oder Wildgerichts, so ich. Offensichtlich beschleunigt dieses Getränk den Gedankenfluß beim Verfassen dieses freihändigen Blog-Artikels.
STEINBOCK-SALSIZ, eine höhenluftgetrocknete Wurstspezialität. Hergestellt aus dem Fleisch des edlen Wappentier Graubündens, das dort alle steilen Bergfelsen abrockt. Diese Wurst rockte meinen Gaumen so heftig, dass ich das Fotoshooting selbiger vergaß. Schaut aus wie eine edle Salami. Der charakteristische Fleischgeschmack kommt am Gaumen unvergleichlich wild daher und schmeckt einzigartig. Empfehlung für alle, die der edlen Salami-Kultur huldigen, … und einem Genußerlebnis (ähnlich dem von Hirsch- oder Wildschweinsalami) noch die Krone drauf setzen wollen.
ALPKÄSE. Unterscheidet sich vom mittlerweile „Mainstream“ Bergkäse, indem Alpkäse nur in der Bergwelt produziert werden darf. Bei Bergkäse darf die Milch aus den Bergen auch weit weg in irgendeiner Molkerei verarbeitet werden. Das Reifeklima spielt beim hochwertigeren Alpkäse somit eine spezifisch aromatische Rolle.
BÜNDNERFLEISCH. Luftgetrocknetes mageres Rindfleisch aus der Region, hauchdünn geschnitten. Beef-Aroma pur. Der „ganz große Bruder“ vom echten Schwarzwälder Schinken (Schweinefleisch).
Fazit
Die Region um Lenzerheide bzw. der Naturpark Ela ist nicht nur für Skifahrer, Wanderer und Mountainbiker interessant. Foodies, die die authentische naturnahe Küche der Schweiz erleben möchten, entdecken dort in der Alpenwelt Graubündens kulinarische Inspirationen. Mit Wildspezialitäten genießen Kenner dort unvergessliche Höhepunkte, … „Gaumenkitzler“! Nicht vergessen, dort einen Beutel Bergwiesenheu oder andere Spezialitäten wie Alpkäse zu organisieren! Duftendes Heu ist während der warmen Jahreszeit Teil des Alpen-Aromas und eignet sich hervorragend zum Kochen, z.B. in heißer Milch oder für Grill-Steaks. Dazu bald an anderer Stelle mehr Info.
Mein herzlicher Dank an die Familie Nadig für die Einblicke in die kulinarische Welt ihrer Heimat!
Gastro-Tipp
In der unscheinbaren aber typisch schweizerischen Bergwelt-Atmosphäre des Restaurant St. Cassian in Lenz entdeckt der Feinschmecker eine gehobene Landhausküche. Mit seinen aromatischen Anleihen assoziiert Nadigs Küche die Kulinarik der klassischen Grand Hotels der Schweizer Alpen. Die Küche orientiert sich bewußt an deren traditionellen Geschmacksschule, welche sich über die Jahrzehnte international bewährt hat und auch heute ohne den sonst üblichen Hipster-SchnickSchnack der Großstädte erfolgreich ist. Der Fokus dieses Konzepts liegt auf „regionalen Spezialitäten und aussergewöhnlichen Kreationen, fantasievoll umgesetzt, saisongerecht und regelmässig wechselnd“, so die Botschaft des Inhaber-Ehepaars an ihre Gäste. Ja, … so kommt die „wilde“ Geschmackswelt Graubündens tatsächlich an meinem Gaumen an. Volle Punktzahl an eine Küche, die was von traditioneller Kochkunst versteht.
Impressionen vom Hirsch auf der Alp





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